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Ethnologische Museen befinden sich seit vielen Jahren im Umbruch. Sie arbeiten die Geschichte der eigenen Sammlungen kritisch auf und befassen sich mit der kolonialen Vergangenheit wie auch mit den Urheberrechten ihrer Sammelobjekte. So auch das Völkerkundemuseum der Universität Zürich. Dieses geht allerdings noch einen Schritt weiter: Mit der Ausstellungsreihe «Fünf Fragen an die Sammlungen» wandelt sich das Museum vom Repräsentationsort zur offenen Wissenswerkstatt. Es wird ein Raum geboten, in dem Wissen gemeinsam erarbeitet und geteilt wird. Eines der fünf Werkstattprojekte ist das Forschungsprojekt «Die ‹Sammlung Borys Malkin› im Blick von Wounaan in Kolumbien». Das Projekt wurde durch einen unserer Seed Grants gefördert. Wir haben mit der Projektleiterin Maike Powroznik vom Völkerkundemuseum darüber gesprochen und die Frage gestellt, welche Rolle Citizen Science darin spielt.
Ursina Roffler: Frau Powroznik, die aus dem Seed Grant-Projekt «Die ‹Sammlung Borys Malkin› im Blick von Wounaan in Kolumbien» entstandene partizipative Ausstellung ist noch bis im April 2024 im Völkerkundemuseum zu sehen. Können Sie uns kurz zusammenfassen, um was es beim Projekt geht?
Maike Powroznik: Diese Ausstellung ist eine von fünf in dem am Völkerkundemuseum in seiner Umsetzung innovativen Werkstattformat: Es werden darin keine fertigen Geschichten über die gezeigten Sammlungen erzählt, sondern offene Fragen gestellt, die alle einladen möchten, ihre Gedanken über ethnografische Sammlungen, über Beziehungen zu Urheber*innen und über museale Praxis oder auch konkretes Wissen über bestimmte Objekte, Sammlungen oder Kontexte einzubringen.
Ein besonders wichtiges Anliegen ist es uns als ethnologisches Museum, das hier bewahrte Kulturerbe aus aller Welt mit den Urhebergesellschaften zu teilen und es gemeinsam zu erforschen. Im Fall der ‹Sammlung Borys Malkin› haben wir diese gemeinsame Forschung erstmals als Seed Grant-Projekt angelegt, um die Sammlung auch ganz praktisch zu den Nachfahren der Urheber*innen rückbinden zu können. Dies sind die indigenen Wounaan und, wie sich dann schon kurz nach der Werkstatt-Eröffnung herausstellte, Afrokolumbianer*innen, die wichtigsten Nachbarn von Wounaan. Rückbinden heisst hier konkret: Die Sammlung an die Urhebergesellschaften zu deklarieren und gemeinsam mit Repräsentant*innen vor Ort – dort wie hier – forschend zu erkunden.
Wir fragen uns: Was sind die Geschichte und der historische Kontext dieser Sammlung, welches Weltwissen ist in und mit der Sammlung bewahrt, was bedeutet sie für die heutigen Zeitgenoss*innen und wie möchten sie, dass wir weiterhin mit der Sammlung umgehen.
Was ist der Bezug zu Citizen Science im Projekt? Und welchen Mehrwehrt hat Citizen Science Ihrer Meinung nach für das Projekt, aber auch für das Völkerkundemuseum an sich eingebracht?
Die Zusammenarbeit mit Urheber*innen der Sammlungen in unserem Museum ist heute mit das Wichtigste an der ethnologischen Museumsarbeit. Zum einen hat die postmigrantische Gesellschaft in der Schweiz, in Zürich selbst, ein direktes Interesse an den Sammlungen, zum anderen jene Urheber*innen oder deren Nachfahren, die sehr weit entfernt leben. Die Zusammenarbeit mit Partner*innen in den weit entfernten Urhebergesellschaften, die in den meisten Fällen, so auch hier, nichts über den Verbleib ihres Kulturerbes wissen, ist in vielerlei Hinsicht ambitioniert. Oft ist sie aus praktischen Gründen nur eingeschränkt möglich. Ein entscheidendes Kriterium ist die Finanzierbarkeit. Das Interesse seitens der Urheber*innen an ihrem materiellen Kulturerbe ist unterdessen sehr gross. Wie kann es gelingen, das in ethnologischen Museen bewahrte Kulturerbe aus aller Welt zu teilen?
Der Bezug zu Citizen Science ist hier im doppelten Sinn gegeben: Erstens macht die Finanzierung des Projekts durch Citizen Science dieses gemeinsame Forschungsprojekt überhaupt möglich; und zweitens ist es ein besonderes Beispiel für den Einbezug von Bürger*innen aus einem anderen Land aus überdies grundlegend anderen Bildungskontexten. Mit westlich-akademischen Fragestellungen und Methoden sind ihre Zugänge zu Wissen unter Umständen nicht vereinbar – und andersherum! Die Bewilligung dieses Citizen Science-Projekts wertschätzt die lokale, kulturelle, technologische und historische Expertise der beteiligten Bürger*innen aus Kolumbien und erkennt ihre Wissenswelt als gleichwertig an. Das ist ein besonders wichtiger Beitrag zur Dekolonialisierung von Perspektiven auf die Welt und auf Wissen in einem schweizerischen universitären Kontext.
Welche Akteure wirken in ihrem Projekt mit und wie werden die Citizen Scientists ins Projekt eingebunden?
Am Beginn der Werkstatt-Ausstellung im Oktober 2022 lernte ich die Autorin, Journalistin und Aktivistin Velia Vidal aus Quibdó (Dept. Chocó im Westen Kolumbiens) unter anderem über ihre Projektzusammenarbeit mit dem British Museum kennen. Im März 2023 organisierte sie im Rahmen eines grossen Festivals ihrer sozialen Organisation MOTETE einen Workshop in Quibdó, bei dem ich verschiedenen interessierten Gesprächspartner*innen begegnete. Ich war dort gebeten, die ‹Sammlung Borys Malkin› mit aller Offenheit vorzustellen: 138 Objekte, gesammelt 1968/69, dazu 172 historische Fotografien sowie Referenzinformationen zum Sammler und dem Erwerbskontext – Malkin lebte von An- und Verkauf von Sammlungen, das war seine Geschäftsidee – wie auch zur musealen Praxis um 1970. An dem Workshop nahmen vier Wounaan-Frauen, eine Afrokolumbianerin, zwei afrokolumbianische Museumsleiter und der Leiter des Projekts «Museo Afro» des Nationalmuseums in Bogotá teil.
Bereits bei diesem ersten Treffen kristallisierten sich verschiedene Anliegen an die Sammlung und den weiteren Umgang damit heraus. Die beiden Hauptgesprächspartnerinnen, die Wounaan Cruz Quilina Piraza Chamapuro, und die Afrokolumbianerin Gloria Amparo Murillo Moreno, nahmen sich daraufhin die Zeit, ihre Anliegen in ihren Gemeinden am Río San Juan (Dept. Chocó) zu besprechen und weitere Schritte zu planen. Über den Sommer liessen sie sich Reisepässe ausstellen und kamen im Oktober 2023 schliesslich nach Zürich, um die Sammlung persönlich zu begutachten. Die Vitrinen wurden geöffnet und die beiden Frauen besprachen über zwei Tage hinweg jedes einzelne Objekt. Entlang ihres Wissens und der Bedeutung der Objekte räumten sie die Vitrinen danach neu ein.
Ihre Besprechung der Sammlung wurde auf ihren Wunsch für sie selbst gefilmt und tonaufgezeichnet. Es war dann ebenso ihr ausdrücklicher Wunsch, dass ihr Wissen über die Objekte im Ausstellungsraum vermittelt wird. «Wir sind da und wir möchten wahrgenommen werden», sagten sie mir bestimmt. Mit einer 360°-Dokumentation können wir die Ausstellung transparent mit den Projektpartnerinnen und ihren Gemeinden in Kolumbien teilen.
Was hat dabei gut und was weniger gut funktioniert?
In diesem speziellen Fall war Offenheit der wichtigste Faktor. Die Werkstattreihe ist, wie gesagt, an sich auf offene Fragen ausgelegt, und so konnte auch das Seed Grant-Projekt angelegt werden. Die Herausforderung bestand in der Verständigung und darin herauszufinden und zu verstehen, was denn die richtigen Fragen an diese Sammlung sind. Durch diese Herangehensweise – mit den Objekten selbst als Anlass und Gegenstand für unseren Dialog – konnten wir die Beziehungen erforschen, die die Geschäftspartner*innen der Wounaan und der Sammler Ende der 1960er angelegt und die uns heute wieder zusammengebracht haben.
Es ist in vielerlei Hinsicht aufwändig, die grosse geografische Distanz zu überwinden. Dazu eine koloniale Verflechtungsgeschichte, völlig unterschiedliche Lebens- und Wissenswelten. Trotz dieser Umstände war unsere Begegnung von Beginn an von gegenseitiger Aufgeschlossenheit geprägt und deshalb konnte eine gute Verständigung stattfinden, die sich bis heute auf einer vertrauensvollen Basis, die wir uns über die Zeit erarbeitet haben, weiterentwickelt.
Eine Herausforderung in Citizen Science-Projekten ist oft der Faktor Zeit. Erwartungen müssen geklärt, Rollen verteilt, Methoden getestet und Citizen Scientists eingebunden werden. Gibt es etwas, wofür Sie mehr Zeit benötigt hatten, als ursprünglich eingeplant?
Im Fall der geografischen Entfernung zu den Citizen Scientists in diesem Projekt und den eben angesprochenen Voraussetzungen unserer Begegnung, spielte Zeit eine noch grössere Rolle, weshalb die Laufzeit des Projekts auch dankenswerterweise mit dem Einverständnis von Citizen Science Zürich um ein weiteres Jahr verlängert wurde.
Gab es weitere Herausforderungen zu bestreiten?
Cruz Piraza und Gloria Murillo leben in einem sehr gefährlichen Gebiet am Río San Juan, das heute vor allem von Drogenkartellen beherrscht wird. Es war mir als Fremde nicht möglich, sie in ihren Gemeinden Chagpién und Negría zu besuchen. Sie selbst nahmen jedoch das auch für sie vorhandene Risiko auf sich, für den Workshop nach Quibdó zu reisen. Sie sind am Río San Juan der Willkürherrschaft, der Vernachlässigung durch Regierungsinstitutionen und Zwangsumsiedlungsmassnahmen ausgesetzt. Dieses Projekt und die Sammlung bekamen nicht zuletzt deshalb für sie in ihrem friedlichen, entschiedenen Widerstand gegen diese Bedingungen und ihn ihrem mutigen Kampf für ein selbstbestimmtes, friedliches Leben eine wichtige Rolle als materielle Rückversicherung für ihre Gesellschafts- und Lebensformen, die seit Jahrzehnten unter Druck stehen.
Gab es während der Laufzeit des Projekts etwas, das Sie im Positiven überrascht hat? Etwas, womit Sie nicht gerechnet hatten?
Eine sehr schöne Überraschung war der Moment, als die beiden Frauen Cruz Piraza und Gloria Murillo in Zürich ihr Wissen mit mir und letztlich auch in der Ausstellung selbst teilten. Trotz aller berechtigter Kritik und Vorbehalte, äusserten sie sich erleichtert darüber, dass diese Sammlung die Zeit überdauert hat, aktuell hier sicherer aufgehoben ist als am Río San Juan und sie jetzt (auch durch die virtuelle Dokumentation) für sie zugänglich ist. In unserem offenen Dialog haben wir gemeinsam die Vergangenheit besprochen und heute ein ganz neues Kapitel – wir miteinander und sie für sich – aufgeschlagen.
Gibt es im Rückblick etwas, das Sie anders machen würden?
Damit die Zusammenarbeit mit durchaus unvorhersehbaren Entwicklungen – insbesondere, wenn die Wissenswelten aller Beteiligten weit auseinander liegen – gut funktionieren kann, muss auf jeden Fall ausreichend Zeit für Gespräche eingeplant werden. Insbesondere in einem kultur- und sozialwissenschaftlichen Fach wie der Ethnologie sind die gegenseitige Vertrauensbildung und das Kennenlernen für alle Seiten essentiell. Unsere persönlichen Kontakte in Quibdó und in Zürich waren jeweils auf wenige Tage beschränkt. Hierfür, daran hatten schliesslich alle auch besondere Freude, würde ich trotz aller digitalen Kommunikationsmöglichkeiten unbedingt mehr Zeit einplanen.
Was würden Sie Personen, die ein Citizen Science-Projekt planen, mit auf den Weg geben?
Die globale akademische Perspektive ist nur eine von sehr, sehr vielen Perspektiven. Citizen Scientists in Forschungsprojekte einzubeziehen kann nicht nur bereichernd sein. Ich denke, dass sie zuweilen die eigentlichen Expert*innen sind, ohne die bestimmte Fragen gar nicht beantwortet werden können.
Dieses Jahr (2024) finden noch weitere Aktivitäten statt. Was ist alles noch geplant und wie geht es danach weiter?
Die Besprechung der Objekte vor Ort in Zürich soll im Weiteren und als Teil des Seed Grant-Projekts die Grundlage für ein Schulbuch für Schulkinder im Chocó werden, das aktuell im Entstehen ist. In der Begegnung mit der Sammlung ist den Afro- und indigenen Urheber*innen (bereits beim Workshop in Quibdó) für sich selbst aufgefallen, dass sie an dieser Sammlung eine gemeinsame Geschichte zu erzählen haben – die natürlich auch die Schweiz betrifft – und dass sie diese Geschichte an der Sammlung erzählen möchten. Auch als Nachbarn im Chocó bringt sie diese Begegnung an der Sammlung näher zusammen.
Ausserdem sollen sowohl Kinder wie auch Erwachsene in ebenfalls aus dem Projekt hervorgehenden Workshops wieder lernen, die Objekte selbst herzustellen. Alle Objekte der Sammlung, die selbst viele verschiedene Objektkategorien umfasst und dem Museum von Malkin gar als ‹vollständiges Set› angepriesen wurde, sollen nachgebildet werden und in einem eigenen Museum verfügbar sein.
Was nehmen Sie persönlich aus dem Projekt mit?
Akademische Drittmittelprojekte sollen im Vorhinein methodisch, inhaltlich und zeitlich durchgeplant und ausformuliert werden. Selbstverständlich ist das sinnvoll und gründet auf einer langen Tradition und Erfahrung. So auch im Falle der Forschung am Völkerkundemuseum. Die Werkstattreihe dreht jedoch die akademische Methode um und wir stellen fest, viele für die Forschungspartner*innen in den Herkunftsregionen relevanten Fragen wären uns im Vorhinein nicht eingefallen. Für mich ist dies das wichtigste Ergebnis aus der bisherigen gemeinsamen Forschung mit Citizen Scientists aus Kolumbien: Die akademische Welt sollte sich anderen Weltsichten noch mehr öffnen und Zugänge und Methoden überdenken, damit vielfältigere Einsichten für alle gewonnen werden können.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Zur Person: Maike Powroznik ist Kuratorin am Völkerkundemuseum der Universität Zürich. Sie betreut die Amerikasammlungen. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Materielle Kultur und praktisches Wissen. In Forschungsprojekten und Ausstellungen hat sie sich in Zürich bislang mit Sammlungen aus dem Amazonasgebiet, Panama, Suriname, Bolivien und Paraguay sowie Kolumbien beschäftigt.
Redaktion: Ursina Roffler
Das Interview wurde schriftlich geführt.