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Ein Gastbeitrag von Manuela Weibel und Tobias Roth
Der Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) ist ein wichtiges Grundlagenwerk für die Schweizer Dialektforschung. Er gibt wertvolle Einblicke in diverse Dialekte, wie sie in den 1940er- und 1950er-Jahren in der Deutschschweiz gesprochen wurden. Nun werden die handgeschriebenen Interviewmitschriften digitalisiert um sie der Nachwelt und insbesondere der Sprachforschung zugänglich zu machen. Einzige Herausforderung: Die Mitschriften enthalten wichtige Notizen in Stenografie – einer Schnellschrift, die heute nur noch wenige Personen beherrschen. Um ihr wertvolles Wissen zu nutzen, wurde die Webplattform Steno-Labor lanciert. Erfahren Sie mehr darüber und kommen Sie mit auf eine Zeitreise durch die Schweizer Dialekte.
In den Jahren 1939–1958 wurden rund 1’500 Dialektsprecherinnen und Dialektsprecher (im Folgenden auch Gewährspersonen genannt) in der deutschen Schweiz, dem deutschsprachigen Bosco Gurin (TI) sowie den acht norditalienischen Walsersiedlungen zu ihrer Mundart befragt. Die Befragungen beruhten auf einer gemeinsamen Initiative der beiden Sprachforscher Rudolf Hotzenköcherle und Heinrich Baumgartner. Während insgesamt 19 Jahren besuchten sogenannte Exploratoren die Gewährspersonen an über 550 Orten. Mithilfe eines umfangreichen Fragebuchs wurden die Sprachdaten in minutiöser Arbeit erhoben, ausgewertet und in insgesamt 1500 Sprachkarten umgewandelt. Diese Karten bilden zusammen den Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS).
Nach Abschluss der Publikation – der achte und letzte SDS-Band erschien 1997 – ging das Archiv des Sprachatlasses an das Schweizerische Idiotikon über, wo es seither der Forschung für weitere Auswertungen zur Verfügung steht.
Das Team des Idiotikons widmet sich seit einigen Jahren der Digitalisierung des Original- und Kartenmaterials. Die Scans des Originalmaterials, d. h. der handschriftlichen Notizen der Exploratoren, sind bereits auf der Website sprachatlas.chzugänglich. Auch die Karten wurden gescannt, sind jedoch noch nicht online veröffentlicht. Damit wurde ein erster, wichtiger Schritt zur Digitalisierung unternommen. Für eine Nutzung, die über das einfache Zeigen der Scans hinausgeht, sind aber weitere Digitalisierungsschritte notwendig.
Zusammen mit dem Schweizerischen Idiotikon, dem Wörterbuch der deutschen Sprache in der Schweiz, bildet der SDS eines der wichtigsten Grundlagenwerke der deutschschweizerischen Dialektologie. Die hohe Dichte der Aufnahmeorte sowie die präzise Arbeit der Exploratoren stechen im internationalen Vergleich besonders hervor.
Bei den Sprachaufnahmen im Wohnzimmer der Gewährspersonen arbeiteten die Exploratoren mit einem Fragebuch und einem Schreibblock, auf dem sie die Antworten in phonetischer Schrift und mit stenografischen Kommentaren festhielten – Steno, also Schnellschrift, weil man die Befragung auch ohne Audio-Aufnahmegerät möglichst flüssig und ohne störende Pausen durchführen wollte.
Zwar wurde das erhobene Material bereits im Hinblick auf die Atlaskarten – dem primären Zweck des Projekts – eingehend ausgewertet, doch bietet die schiere Menge an Material auch heute noch Stoff für weitere Forschungen.
Die Stenopassagen, als Teil der Aufnahme, bieten wichtige Zusatzinformationen, teils zu einzelnen Fragen, dann aber auch in den Vorbemerkungen und Personalblättern zu den befragten Personen. In diesen erfahren wir viel Spannendes und auch wissenschaftlich Relevantes über die Umstände zur Zeit der Befragung.
Wie wichtig diese in Steno verfassten Daten für Dialektforscherinnen und -forscher sind, erläutert Christa Schneider, Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Digital Humanities der Universität Bern:
«Die Aufarbeitung der in Steno verfassten Metadaten in den Originalen des SDS sind von enormem wissenschaftlichen Wert. Sie beleuchten zum ersten Mal nicht nur den bereits bekannten Erfolg des Atlasprojekts, sondern auch unerwartete Herausforderungen, denen sich die Exploratoren stellen mussten, und Kompromisse, die entsprechend eingegangen werden mussten.
Bei der Aufnahme der Gewährsperson in Grafenried (BE 36) stand beispielsweise die vorgesehene Gewährsperson aufgrund besonderer Umstände (möglicherweise Militärdienst?) nicht zur Verfügung, weswegen eine Gewährsperson aus Fraubrunnen berücksichtigt wurde. Da Fraubrunnen geografisch näher an der Kantonsgrenze zu Solothurn liegt, lässt dies auch einen Einfluss auf den Dialekt der Gewährsperson vermuten. Ohne die Aufarbeitung der Steno-Notizen wäre diese Information nicht an den Tag gekommen, was unser Wissen zu den Erhebungsumständen in der betreffenden Region stark beschnitten hätte.»
Mit dem zunehmenden Verschwinden der Stenografie aus dem Berufsalltag beherrschen immer weniger Leute diese Schnellschrift, die Sprachforschungsgemeinschaft nicht ausgenommen. Um das Originalmaterial des SDS dauerhaft zugänglich und lesbar zu machen, wurde das Steno-Labor entwickelt – eine Webplattform für die kollaborative Transkription des SDS-Originalmaterials.
Das Steno-Labor ermöglicht die unkomplizierte Umschrift von Stenopassagen und richtet sich an interessierte Personen mit Stenografie-Kenntnissen. Sie können sich registrieren und sogleich mit dem Transkribieren loslegen. Suchen Sie dazu einfach eine Seite aus, die noch nicht bearbeitet wurde. Vielleicht finden Sie ja Ihren Wohnort?
Die Mitarbeit im Steno-Labor geschieht auf freiwilliger Basis. Es gibt keine Mindestanforderungen in Bezug auf den Arbeitsumfang. Transkribieren Sie so viel, wie Sie wollen oder können.
Bislang wurden rund zehn Prozent der Scanseiten transkribiert. Die Transkriptionen werden jeweils ins Online-Originalmaterial integriert und sind so rasch nach der Bearbeitung öffentlich zugänglich.
Manuela Weibel und Tobias Roth, Steno Lab